Stralsund – Siorapaluk und zurück: 
Mein Jahr 2023 

Anfang 2023 beschlossen wir, nach Grönland zu fahren. Wo Siorapaluk liegt, wusste ich vorher nicht. Aber Eisberge wollte ich immer schon mal sehen, und Ende Juli war es so weit.

Das Jahr begann am Meer,

und so endete es auch. Ahrenshoop und Prerow im Westen, der Kontinent Rügen mit Hiddensee im Norden und Usedom im Osten: alles liegt zum Glück nur einen Tagesausflug entfernt von Stralsund. Hineingefeiert haben wir mit lieben Freunden, auch das ist ein Glück. Ende 2023 werden wir gemeinsam das neue Jahr begrüßen, und hoffen, dass es friedlicher wird als das vergangene.  

Im März gab es noch einmal Schnee, und nur Tage darauf saßen wir zu ersten Mal zum Essen draußen: in Hamburg, an der Elbphilharmonie. Bach und Beethoven, David Bowie und die Rolling Stones, Harry Styles und Taylor Swift habe ich 2023 oft gehört. Aber Rock im Stadion ist nicht so meins, klassische Konzerte sind mir lieber. Gereist sind wir außerdem nach Lübeck, und nach Klütz, auf den Spuren von Thomas Mann und Uwe Johnson.

Hiddensee und Koserow

Der April brachte schöne Tage auf Hiddensee, dicke Jacke und Mütze aber die Füße schon im Wasser!

Etwas überraschend kam die Wahl zur ersten Vorsitzenden des Kunstvereins, nach dem plötzlichen Rücktritt des bisherigen Vorsitzenden. Ich engagiere mich gern für diesen Verein, der inzwischen auch ein Freundeskreis geworden ist. Wie entdecken gemeinsam Kunst, fahren zu Ausstellungen und organisieren Veranstaltungen.

Im Mai ging es nach Usedom zu den Literaturtagen. Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen beeindruckte durch ihre Texte und als Persönlichkeit auf dem Podium. Das Ganze umrahmt von langen Spaziergängen im Wald und am Meer, bei Sonnenschein und Sturm, und köstlichem Fisch in Koserow.

Vergangenheit wirkt weiter

Das erste Halbjahr war eine intensive Zeit im Vorstand des Vereins Kriegsenkel e.V. Wir trafen uns zu einer Planungssitzung und hatten gute Ideen.  Leider vergeblich, der Vorstand ist nicht zu einem Team geworden. Im Juli habe ich die Mitarbeit dort beendet. Aber das Thema ist weiterhin aktuell. Die Auswirkungen des 2.Weltkrieges auf meine Familie beschäftigen mich schon lange. 2023 habe etwas mehr über meinen Vater herausgefunden.  In den Kirchenbüchern von Slate bei Parchim habe ich seinen Namen gefunden, in schön geschwungener Schrift ist mein Vater dort 1931 als Konfirmand verzeichnet. Einige Seiten zuvor ist die Heirat seiner Eltern dokumentiert. Und später der Tod meiner Großeltern, die ich nie kennengelernt habe. Das Museum in Parchim zeigt die Geschichte der Stadt seit den Anfängen. Die 1920er und 1930er Jahre interessieren mich besonders. In welcher Umgebung ist mein Vater herangewachsen? Im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung konnte ich auch mehr über Schlesien erfahren, wo meine Mutter geboren ist und bis 1948 lebte. Vielleicht reise ich 2024 nach Polen, um ihre Orte zu sehen.

Quedlinburg und der Harz

Im Juni reisten wir nach Quedlinburg: eine schöne Stadt mit viel Fachwerk, einem exzellenten Feininger-Museum und einem Haus, das Dorothea Erxleben gewidmet ist, der ersten promovierten Ärztin in Deutschland. Sie hat sich diesen Titel im 18.Jahrhundert erkämpft, erst viel später wurden Frauen regulär zum Studium zugelassen. 

Danach fuhren wir durch den Harz: verdorrte Kiefern, abgeholzte Hänge, an denen nichts wächst. Das hatte ich anders in Erinnerung.

Im Südharz besuchten wir die KZ-Gedenkstätte Mittelbau Dora, ein schauriger Ort. Aber nachdem wir in Peenemünde auf Usedom gesehen hatten, wie der Irrsinn der deutschen Raketenentwicklung begann, gehörte dieses Kapitel der Geschichte auch dazu. Erschütternd, wie viele Menschen durch Sklavenarbeit und Grausamkeit sterben mussten für den verbrecherischen und sinnlosen Krieg. 

Und natürlich haben alle in der Umgebung davon gewusst. Die Karte der Nebenlager zeigt, dass fast in jedem Ort Zwangsarbeiter untergebracht waren und eingesetzt wurden.

Goldhelm Schokoladenmanufaktur

Kommt Willi Wonka aus Erfurt?

Das schöne Erfurt war danach eine Erlösung. Der historische Stadtkern ist wieder aufgebaut, viele Gebäude sollten noch in den letzten Monaten der DDR abgerissen werden. Eine Gedenkstätte gibt es in Erfurt auch: die Firma Topf & Söhne entwickelte und lieferte die Öfen für Auschwitz. Niemand hatte sie dazu gezwungen, die Firma ergriff selbst die Initiative und bewarb sich um den Großauftrag der KZ-Ausrüstung.

Am meisten beeindruckt hat uns der Besuch der Alten Synagoge, die inzwischen Welterbe und Ort für moderne Kunst ist. Und natürlich die schöne Brücke, mit Fachwerkbauten und traditionellen Geschäften wie der Schokoladenmanufaktur. Die Brückentrüffel sind sensationell, Willi Wonka kam vermutlich aus Erfurt.

Einen ganzen Tag verbrachte ich mit den Schreibfreundinnen auf dem Petersberg hinter dem Dom. Wir kannten uns bisher nur online, es war bewegend alle ‚in echt‘ zu sehen und zu sprechen. Es gab so viel zu erzählen.

Die Rückfahrt nach Stralsund war lang. Als wir mit dem Auto über die Elbe fuhren, fühlten wir uns wohl, angekommen im Norden. Nicht nur klimatisch ist es oben einfach besser, es ist nicht so voll und inzwischen – Heimat. 

Nach vielen Jahren des Lebens im Ausland, mit sporadischen Besuchen in Deutschland und einigen Jahren in München habe ich nun ein neues Heimatgefühl entdeckt. Warum fiel mir das gerade ein, als wir  an Parchim vorbei fuhren? 

Die Reise nach Grönland

Ende Juli ging es dann nach Grönland, die Reise hat meine Sicht auf die Welt verändert. Dort oben ist zu spüren, wie fragil das Gleichgewicht unseres Planeten ist. Wie klein dagegen der Mensch, wie unbedeutend und gleichzeitig in seiner Lebensweise so zerstörerisch. Beeindruckt haben mich die Landschaften, aber noch mehr die Menschen, die in dieser Umgebung leben. Siorapaluk war die nördlichste Station der Reise, 41 Einwohner, ein Gletscher um die Ecke und ein Strand so schön wie Hiddensee. Leider ist er nur drei Monate im Sommer eisfrei. Trotz Wassertemperatur von 4 Grad Celsius haben einige von uns ein Bad genommen – ich nicht. Die Einwohner haben während unserer Dorfbesichtigung das Schiff besucht, die Kinder wurden mit Coladosen beschenkt. Sehr wertvoll in ihren Augen (das Versorgungsschiff für den örtlichen Supermarkt kommt einmal im Jahr), aber mich erinnerte es an Glasperlen, die auch noch die Zähne verderben. Über Grönland will ich mehr lesen, und schreiben. Hier im Blog habe ich begonnen, aber leider wurde die Idee in den Alltagsgeschäften begraben. Das wird anders im kommenden Jahr.

Geschrieben habe ich einiges. Sven Rohde hat mich in seinen Workshops ermutigt, die Geschichten meiner Familie aufzuschreiben und dabei mich selbst besser zu verstehen. Zwei Schreibgruppen haben sich aus diesen Workshops gebildet, wir ermutigen uns und fordern uns heraus. Meine großen Geschichten dieses Jahres, die Grönland-Reise und das Vaterbuch, werden 2024 weiter geschrieben und hier veröffentlicht.

Hamburg und Lübeck

Der Spätsommer verging mit weiteren Reisen, nach Rheinsberg mit meiner Schwester und nach Hamburg zu einem Treffen mit weiteren   Schreibfreundinnen. Wie sitzen im Garten und beschließen, uns öfter zu sehen.

In Lübeck erleben wir eine bewegende Aufführung von Händels Messias mit dem Festspielchor. Danach waren wir nördlich von Lübeck in der Gegend, in der Jürgen aufgewachsen ist. Schöne Landschaft an der Ostsee, auch für ihn ist die Wahl von Stralsund als Heimathafen kein Zufall.

 

Stralsund

Immer wieder beglücken die Begegnungen mit neuen und alten Freunden, Exkursionen und Veranstaltungen mit dem Kunstverein und Feste mit den Nachbarn. Es ist gut, diese Verbundenheit zu spüren. Gern zeigen wir auch Besuchern von auswärts unsere schöne Stadt. Der eine oder die andere fragt, warum Stralsund? Die Antwort fällt leicht: Ostseeliebe, das ruhige und angenehme Leben hier. Und ab und zu ein Trip nach Berlin, Hamburg oder Lübeck. Aber umziehen? Nein, die Idee kam nicht auf in den vergangenen drei Jahren.

Schreiben am Meer

Ende November ging es zum Schreiben nach Ahrenshoop, und es schneite tagelang! Das hatte ich noch nicht erlebt, alles war gedämpft, sogar das Meer war leise. Die Schreibwerkstatt mit Kristine von Soden hat mich  in einen kreativen Fluss gebracht, ähnlich wie im März 2022. Ich konnte mich einlassen auf die Dynamik der Gruppe und  habe neue Schreib-Ideen  entwickelt. Manches wird sich als Umweg erweisen, aber die führen bekanntlich auch zum Ziel.

Das Jahr neigt sich

Nun ist der Dezember fast vorbei, draußen knallen schon die unvermeidlichen Böller. Was bleibt von diesem Jahr? Verbundenheit mit Menschen, neue Welten entdecken, regelmäßiger Schreiben. Mindestens 100 Wörter am Tag, zusammen mit den 10.000 Schritten ein gutes Training für Körper und Geist. Gut kochen, gut schlafen, regelmäßig Yoga: so wird es weitergehen, hoffentlich noch lange.

P.S.

In diesem Rückblick ist nicht die Rede von den bedrückenden Entwicklungen der Kriege und Terrorangriffe in der Ukraine, in Israel und in Gaza. Das alles beschäftigt mich täglich, aber es wird genug dazu geschrieben. Ich versuche zu verstehen, begreifen kann ich vieles nicht. Sorgen machen mir auch die Ablehnung der Demokratie in Deutschland und Europa (von anderen Ländern ganz zu schweigen) und die Gleichgültigkeit Vieler gegenüber der Klimakatastrophe. Ist es schlimmer als früher, oder bin ich dünnhäutiger? Vermutlich beides. Aber es hilft nichts, wir müssen den Herausforderungen unserer Zeit begegnen. Dafür wünsche ich mir Kraft, Geduld und einen klaren Kopf.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte prüfen Sie die Details und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.